Freitag, 16. Dezember 2022

(16/24) Adventskalender mit 24 Erinnerungen an Bern: KURT GALLUS SCHMID - DER ZÜRCHER, DER EINMAL PRO WOCHE NACH BERN KAM

Kurt in Ändu Gehrigs Broccante-Keller
an der Berner Rathausgasse 49
 
Kurt mit der russischen Fotografin Daria Marchik
bei mir im Laden

Von sich selbst sagt er, dass er mit 75, also im Jahr 2027 auf dem Höhepunkt seines Lebens angekommen sein will. Kennengelernt habe ich Kurt 2007, als ich HSG-Student war und wegen einer Schokoladenmarke mit dem Marketing-Club der Uni St. Gallen seine Werbeagentur in Wallisellen besucht habe.

Wir verstanden uns auf Anhieb, nicht zuletzt deswegen, weil wir beide grosse Bewunderer von Stanley Kubricks Filmdrama BARRY LYNDON aus dem 18. Jahrhundert sind. Kurz danach durfte ich Kurt in seiner Funktion als Co-CEO und Leiter New Business der damals erfolgreichsten Werbeagentur der Schweiz assistieren. Unter anderem rollte ich auf Rollschuhen mit aufgesetztem Schnurrbart und verkleidet im Schweizer Skidress der 70er Jahre in Geschäftsleitungssitzungen von Unternehmen hinein, die Kurt als Kunden gewonnen wollte. Wir haben so tatsächlich Mandate gewonnen und wurden wegen der Aktion auch bei der Fluggesellschaft Swiss zum Pitch eingeladen. Siehe dazu mein erstes markiertes Foto auf Facebook aus dem Jahr 2008.
Als ich im Februar 2009 die Dr. Strangelove Videoapothek eröffnete und der Berner Laden nur drei Tage die Woche offen war, gründeten wir zusammen im Operation Center 1 am Zürcher Flughafen eine neue Werbeagentur mit dem Namen "Qbricks Factory".
Im Dezember desselben Jahres traf ich Kurt im Restaurant vom Zürcher Kunsthaus und teilte ihm dort mit, dass ich die Berner Altstadt nicht mehr verlassen werde, mich deswegen vom Aufbau der "Qbricks Factory" zurückziehe und mich voll und ganz auf meinen Laden konzentrieren möchte.
Nach ein paar Monaten Testbetrieb des Filmverleihs sah ich ein, dass ich von den Ladeneinnahmen nicht nur die günstige Miete von 860 CHF bezahlen kann, sondern, dass auch genug Geld übrig bleibt, um die restlichen Fixkosten sowie die Ausgaben für Nahrung, Kleider und Freizeit decken zu können. Da ich mich in den beiden ersten Jahren bescheiden im Hinterzimmer des Ladens einquartierte, entstanden keine zusätzlichen Kosten für eine Wohnungsmiete.
Kurt war sehr enttäuscht von mir, dass ich ihn nach wenigen Monaten im Stich gelassen habe. Doch Kurt ist eine der treusten Seelen überhaupt, und die Freundschaft ging weiter. Er versprach mir, dass er jede Woche, meistens war es der Mittwoch, in Bern besuchen werde und dass wir rund um meinem Lädeli in der Rathausgasse weiterhin als Trüffelschweinchen zusammen die Magie des Alltags finden und erfinden können, dass wir lustige, poetische Projekte realisieren werden, welche Begegnung zwischen den Menschen fördert und ihre Persönlichkeitsentwicklung vorantreibt.
Da ich als damals kinderlosen, selbstständig Erwerbender mit späten Öffnungszeiten (14-22 Uhr) sehr lange schlief, traf er meistens zwischen 10 Uhr und halb Elf in meinem Laden, später Wohnung, ein. Wie ein "Samichlaus" brachte er Woche für Woche einen Sack voller gesunden und von mir gewünschten ungesunden Lebensmittel mit. Nicht nur das, er bereitete mir anfangs stets das Frühstück an der Rathausgass 38 und 40 zu. https://www.bernerzeitung.ch/boheme-lebensgefuehl-in-der...
Währendem ich mich oftmals noch auf der Matratze wälzte und mich vom ausgedehnten Nachtleben in der Kreissaalbar - Endo Anacondas damaliger Stammbeiz - erholte, kochte Kurt bereits auf dem Gasherd in einer Pfanne die Haferflocken auf und dämpfte darin Feigen, Datteln und Birnen und in einer Bratpfanne bereitete er gut "getimed" pünktlich zum Aufstehen eine Omelette zu.
Einmal im Januar 2017, zwischen dem 1. und dem 2. Wahlgang der Berner Stadtpräsidentenwahl, nahmen wir dieses Frühstück in der Küche sogar mit der SP-Politikerin Ursula Wyss, ein. Wer sich für diese „merkwüdigliebende“ Begegnung interessiert, dem empfehle ich Kurts Buch "Überzeugen im Business. Wie Sie ein erstes Nein in ein entschiedenes Ja verwandeln – 12 Praxistipps". Ein Teil eines Kapitels widmet sich dieser Episode.
Gemäss dem Marketing-Guru der Universität St. Gallen "hilft Kurts Buch und Workshop „Überzeugen im Business“ den Menschen ihre wahren Anliegen zu erkennen und überzeugend zu vertreten. Kurt Schmid reflektiert so klar, dass man die Praxistipps sofort anwenden kann.“
Prof. Dr. Dr. h.c. Torsten Tomczak, Direktor des Instituts für Marketing und Customer Insight an der Universität St. Gallen. http://www.xn--berzeugen-p9a.ch/
Noch vor Mittag wechselten wir die Gassenseite und nahmen im mit „Hudigäggeler-Musik“ bseschalten Modelautoladen von Ruedi Zemp (siehe Kalendertor Nr. 3) noch einen Café, wo wir nicht selten im Hinterzimmer auch die Gassenältesten antrafen, namentlich die Fürstenkäsertochter Rosi Jäger (siehe Dokfilm ALTSTADTLÜT) oder Leni Uhlmann, die letzte Inhaberin eines Tante-Emma-Ladens in der Rathausgasse. (https://vimeo.com/235806874 ab Sekunde 40)
Im Sommer gingen wir bereits vormittags mit dem benachbarten Vogelfedern-Schmuckdesigner Felix Höfler nach Bremgarten, um die Aareschlaufe zu schwimmen und an meinem Geheimstrand sowie im Zehendermätteli liessen wir uns von der Sonne verwöhnen. Pünktlich um 14 Uhr waren wir wieder zurück in der Altstadt, da ich mein Lädeli jeweils dann öffnete.
Wenn gerade niemand in meinen Laden kam, realisierten wir Projekte: zum Beispiel bereiteten wir die Radiosendung FILMAPOTHEKE vor, wo Kurt verschiedene Rollen einnahm, zum Beispiel die des wirtschaftsliberalen "Prof. Cash Flow" in der Filmbesprechung zu FULL METAL JACKET oder die des "Beamten" Oskar Weibels, einem Mitarbeiter der Medikamentenzulassungsbehörde Swissmedic. In dieser Live-Folge ersuchte ich Swissmedic, meinen Laden als Apotheke anzuerkennen und dass die Woody Allen DVDs alias Woodynol-Präparate als Medikamente eine marktreife Zulassung erhalten. RADIOSENDUNG ÜBER DIE HEILKRAFT VON FULL METAL JACKET: https://www.facebook.com/677872161/videos/8562558913818084/ RADIOSENDUNG ÜBER DIE MEDIKAMENTENLINIE WOODYNOL, FILME VON WOODY ALLEN https://www.facebook.com/677872161/videos/1150723848916905/

Wir verfassten aber auch Portraits von Berner Originalen für die Altstadtzeitung BRUNNE ZYTIG und stellten darin Laden-Neueröffnungen in der Altstadt vor. Im 2-CHF-Bücherkeller organisierten wir Poesieabende. Ganz oft backten wir auch einen Gugelhopf und verteilten diesen auf der Gasse und meinen benachbarten Ladeninhabern.
Kurt begegnete unter den Lauben auf dem Bänkli hunderten Kunden, Freaks, Touristen und Nachbarn. Kurt hat nicht nur ein grosses Herz, sondern eine einmalige zugängliche und verspielte Art auf Mitmenschen zuzugehen. Er wurde und wird in Bern eigentlich von allen geliebt, vom Berner Clochard bis zum Genfer Diplomaten, vom jungen Punk bis zur pensionierten Spiessbürgerin, von der engagierten Feministin bis zum konservativen Patrioten oder vom radikalen Impfgegner bis zur Pharmakurtisana. Die Leute hingen an seinen Lippen, wenn er als Hobby-Psychologe für die Leiden meiner Gäste da war oder als Coach konkrete umsetzbare Ratschläge erteilte für die Realisierung von Projekten.
Manchmal blödelte er einfach nur konstruktiv herum. Was Kurt kaum kannte, ist die tiefste Energiestufe des Menschen, nämlich die Scham. Oftmals gab er vor, jemanden zu sein, den er gar nicht ist, mit der Absicht beim Gegenüber Irritation, Verwunderung und Lacher auszulösen. An guten Tagen vergnügten wir uns 12 Stunden lang, bis kurz vor zehn, wenn Kurt mit dem Zug wieder die Rückreise nach Zürich antrat.
Lieber Kurt, danke für all' diese wunderbaren Berner Erlebnisse und möge Deine Vision spätestens 2027 der ganzen Schweiz zugutekommen.

Kurt am 27.2.2009, exakt 13 Jahre vor der Geburt meines Sohnes Elio,
bei der Gründung der Videoapothek Dr. Strangelove.
Wir verkleideten uns als "Droogs" gemäss dem Film
Uhrwerk Orange von Stanley Kubrick und verteilten
an der Berner Fasnacht Flyers von der
Videoapotheke Dr. Strangelove

Ein Artikel, den ich zusammen mit Kurt
für die Altstadtzeitung BRUNNE-ZYTIG geschrieben habe,
über unseren Freund und damaligen Nachbar Felix Höfler.

Portrait über Dieter Heugel, 
der inzwischen verstorbene Inhaber der Chäshütte Heugel. Teil 1

Portrait über Dieter Heugel,
der inzwischen verstorbene Inhaber der Chäshütte Heugel. Teil 1
Portrait über Hassan, der Betreiber des Nydegg Kiosks

Kurt bei mir in der Wohnung an einem Silvesterabend

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DIE EPISODE VOM HEILIGEN GEIST IM ALTERSHEIM
Einmal an einem Pfingstmontag nahm ich Kurt ins Altersheim Kühlewil mit. Eine Alterspflegerin und Kundin bat mich, dort in einer dementen Wohngruppe einen Film vorzuführen. Die bisherigen gezeigten Schweizer Filmklassiker seien in der Gruppe alle bestens an. Doch nicht der bayerisch und wienerisch gesprochene Film „Das Doppelte Lottchen“ aus dem Jahr 1955, den ich für diese Vorführung ausgewählt hatte. Der Edelsführer der dementen Pensionäre, der ebenfalls Kurt hiess, verliess die Fernseheecke als erstes, bis zur Filmmitte waren wegen dem Herdentrieb plötzlich nur noch knapp die Hälfte vor dem Fernseher versammelt.
Mich überkam ein beschämendes Gefühl, weil ich mit meiner Filmwahl am Tag des Heiligen Geistes daneben gegriffen habe. Doch Kurt hatte eine zündende Idee, wie wir die Abwanderung in der TV-Ecke des Altersheimes stoppen konnten. Er begann uralte Schweizer Volkslieder zu singen: „Det äne am Bärgli, ded stat en wiessi Geiss.“ „Mi Vater isch en Appezeller“ usw. Eine Pflegerin hatte zum Glück ein Schweizer Singbuch zur Stelle und ich konnte auch mitsingen.
Je länger wir sangen, desto mehr sangen die über 80-jährigen Klienten auch mit, bei jedem weiteren Lied hörte man mehr Leidenschaft in den Stimmen, spätestens nach dreiviertel Stunden hatten alle der sieben übriggebliebenen Altersheimbewohner vor Freude Tränen in den Augen. Plötzlich tauchten bei den Dementen viele Erinnerungen wieder auf, sie erzählten voller Begeisterung von ihren Liebsten aus der Jugendzeit und wie sie dazumals zu Hause und in Beizen musizierten.
Nach ca. zwei Stunden gingen wir in die Altstadt zurück und die Pflegerin sagte mir am nächsten Tag am Telefon, dass sich alle sieben Pensionäre am Abend wieder in der Fernsehecke des Altersheimes versammelt haben, um gemeinsam Weihnachtslieder zu singen. Nach diesem Erlebnis hatte ich nie mehr Zweifel darüber, ob es sowas wie einen Heiligen Geist gäbe. Man muss ihn nur wachküssen.
PS: Wer einen Altersheimleiter kennt und mich als Animator im Heim empfehlen möchte, den bete ich dies zu tun. Ich suche ab März 2023 immer noch eine Teilzeitstelle.
Kurt hat übrigens auch die lustige "1818"-Kampagne erfunden.
Hier auf dem Foto seht ihr mich links im "1818-Kostüm".
Wir benutzten den Bekanntheitsgrad dieser Kampagne,
um weitere neue Kunden anzuwerben.

Kurt und ich am Heurmblödeln während Vincents Geigenspiel
an einer kleiner improvisierten 50. Geburtstagsparty
für meinen drogenabhängigen Nachbar unten an der Aare.

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