Freitag, 23. Dezember 2022

(23/24) Adventskalender mit 24 Erinnerungen an Bern: EUGEN RENGGLI - DER BILDHAUER AUS DEM JURA, DER EIN ENGEL WAR UND IMMER NOCH IST

Tausenden Seelen durfte ich in den über zwölf Jahren in der Berner Altstadt begegnen. Wenn es einen Menschen gibt, den man als heiligmässige Engelsgestalt beschreiben könnte, dann wäre es der Bildhauer und Seelsorger Eugen Renggli aus Lucelle im Kanton Jura. Für den Nachkommen unseres Heiligen Landesvaters Bruder Klaus war ein Mensch dann heilig, wenn er vom falschen Denken geheilt worden ist. Denkt bitte selbst darüber nach, was das bedeuten kann.

Das einzige Portraitfoto, dass ich von Eugen Renggli habe. Es gibt auch keine einzige Audio- oder Videoaufnahme von diesem wunderbaren Mensch. Das haben wohl Engel so an sich..


Eugen Renggli war Bildhauer. Seine meisten Werke sind religiös motiviert, darunter sind:
Ohtmarli – Miniatur eines Jungenkopfes (Othmar im Jahr 1946)
Engel
Warning – Verkündigungsengel
Christus am Kreuz
Reconciliation (die Versöhnung)
Sankt Martin teilt seinen Mantel in der Kapelle Sankt Martin von Bättwil im Jahr 1990
Jésus Christus (in einer Krippe)
Erzengel Michael
Diverse Aphorismen über angewandte Kunst
Begegnung / Rencontre
David / Goliath
Der gute Hirte
Siesta (Studie in Wachs 1938)
Engel des Trostes (1951)


Skulptur: Erzengel Michael

Im Januar 2012 durfte ich den damals 88-jährigen energiegeladenen Menschen mit einer überirdischen Ausstrahlung zum ersten Mal begegnen, weil er in den Monaten und Jahren zuvor jeweils die Rathausgasse wegen den Schaufenstern des kleinen Bücher-Imperiums der Familie Wild besuchte.
Weil mein kleines Lädeli keine zehn Meter davon entfernt war, hatte der gross gewachsene, schlanke Mann mit seinen hellwachen Augen die legendären Marx Brothers entdeckt, die zu jener Zeit in Endlosschleife in meinem Schaufenster-Fernseher liefen. Er sah auch, dass ich neben den DVDs auch Schallplatten anbot und so kam er in meinen Laden hinein und fragte, ob ich interessiert wäre, die Schallplatten-Sammlung von einem verstorbenen Freund zu erben.

Einladungsflyer zur 10-Jahres-Jubiläumsparty von Dr. Strangelove Videoapothek. Ich erzählte an diesem Anlass auch von zehn verstorbenen Mitmenschen, die mich sehr geprägt haben. Fünf von zehn haben in diesem Avdentskalender ein "Türli" bekommen.
Tor 3: Ruedi Zemp, 4. von links
Tor 12: Michele Bellino, ganz links
Tor 14: Luigi Spadini, 6 von links
Tor 10: Alexander Wild, ganz
rechts und eben
Tor 23: Eugen Renggli

Ich war verblüfft von seiner Beweglichkeit sowie von seiner warmen, hellen Stimme. Sein wacher Geist und seine ausdrucksstarken Augen zogen mich in seinen Bann. Er sprach immer wieder von der Begegnung als sein wichtigstes Credo im Leben und in seinem Kunstschaffen. Was mich zu Tränen rührte, war seine Mission, die er von seiner Mutter geerbt hatte:

BEGEGNUNG heisst diese Skulptur des Bildhauers Eugen Renggli.

In seiner Freizeit besuchte er über 65 Jahre lang in regelmässigen Abständen alte, einsame Kranke und Bewohnerinnen von Räumen, aus denen man nicht mehr oder nicht so leicht wieder rauskommt. Mit seinem Auto fuhr er jeweils von Lucelle quer durch die Schweiz und steuerte damit Altersheime, Gefängnisse und Psychiatrien an. Oft fragte er einfach nur im Empfang des Altersheims, ob man ihm eine Klientin nennen kann, die besonders einsam und trostlos in ihren vier Wänden dahinlebt. So kümmerte sich Herr Renggli dafür, dass es nicht bloss zu einer einmaligen Begegnung kam, sondern, dass er den Menschen in regelmässigen Abständen besuchte, also ihn nicht bloss begegnete, sondern ihn sogar begleitete.

30-minütige Radiosendung mit Texten über Engel vom Religionswissenschaftler Otto Betz.
Für Herr Renggli brennte ich 95 CDs, die zusammen mit der Todesanzeige an 95 Hinterbliebenen versendet worden sind. Dies war zumindest der Wunsch von Herr Renggli.
Sein Vorleben der Nächstenliebe, der Fürsorge, der Begegnung und der Begleitung hat mich so stark geprägt, dass ich diese Haltung zu meinem politischen Programm gemacht habe, bei meiner ersten Kandidatur für den Berner Gemeinderat im November 2016. Ich strebte das Amt des Sicherheitsdirektors an, da dieser Amtsinhaber - in Bern ist es immer noch Reto Nause - scheinbar am Schalthebel sitzt, eine Stadt nicht bloss zu einer auf den Strassen gelebten Kulturstadt, sondern eben auch zu einer Begegnungsstadt zu machen. Alle zehn Forderungen auf meinem Wahlflyer waren darauf ausgelegt, die Begegnung zwischen den Menschen zu fördern. Siehe Flyer-Rückseite meiner Kandidatur aus dem Jahr 2016.

Mein Wahlversprechen war: "Bern wird die Begegnungsstadt, in der sich alle Menschen unabhängig von Herkunft, Kultur, Einkommensklasse, Religion, Generation, Szene und Gesinnung einander begegnen können." Begegnungsfeindliche Schikanen wie Verbote und Bewilligungen hätt ich so weit wie möglich abgebaut und begegnungsfreundliche Projekte ausgebaut. So hätte hätte zum Beispiel die Stadt mit mir als Gemeinderat saisonal abwechselnde Gastländer bestimmen können, die auf Berns öffentlichen Plätzen mit Musik- und Filmveranstaltungen präsent sind, dort ihr (traditionelles) Handwerk traditionellen Handwerks und mit Ständen für Nahrung und fliegenden Händlern mit Bauchläden eine fremde Kultur den Bernerinnen und Bernern nahe zu bringen. "Auf lange Frist würde dadurch die Invalidenversicherung und das Gesundheitswesen entlastet und die Integrationsbereitschaft der Menschen gestärkt." Doch man hatte in der Bundeshauptstadt kein Interesse an diesen Ideen.

"So wird Bern zur Begegnungsstadt" war mein Slogan für meine erste Kandidatur für den Berner Gemeinderat aus dem Jahr 2016.
Meine 12 begegnungsfördernde Punkte für Bern aus dem Jahr 2016.

Eugen Renggli inspirierte mich zu dieser Vision und er hätte in meinem Schattenkabinett von 2016 auch noch gleich das Ministerium für Begegnung erhalten.

"Bern wird die Begegnungstadt, in der sich alle Menschen unabhängig von Herkunft, Kultur, Einkommensklasse, Religion, Generation, Szene und Gesinnung einander begegnen können. Auf lange Frist wird dadurch die Invalidenversicherung und das Gesundheitswesen entlastet und die Integrationsbereitschaft der Menschen gestärkt."

Die Freundschaft mit Herr Renggli dauerte über drei Jahre bis zu seinem raschen Tod am 11. September 2016 an. Er besuchte mich ca. jeden oder jeden zweiten Monat in der Rathausgasse. Da er sein Erscheinen nie ankündigte, wollte ich keine Minute vom Laden fern bleiben, weil immer die Möglichkeit bestand, dass Herr Renggli in meinem Laden plötzlich auftauchen könnte.
Mit 92 Jahren verfasste er ein Jahr vor seinem Tod ein Buch mit Aphorismen über Kunstreflexion, Begegnung und Glück. Neben seinen philosophischen, theologischen und bildhauerischen Ausführungen zu Engeln, war das damit eng verknüpfte Thema der Begegnung zeitlebens der Dreh- und Angelpunkt seines Wirkens. Höre dazu auch den DRS2 Beitrag des Theologen Otto Betz über Engel.
Uns verband ab Februar 2012 auch eine Brieffreundschaft. Er verfasste seine Briefe wie auch das Couvert mit einer Schreibmaschine. Ich staunte nicht schlecht, als ich auf dem leuchtend grünen Briefumschlag las:
AUTOR
STEFAN THEILER
RATHAUSGASSE 38
3011 BERN
Der erste Brief enthielt:
* 4 x gefaltete A4 Kunstkarten mit den von ihm erbauten Skulpturen der Erzengel. Auf einer Rückseite befand sich das untenstehende Gedicht über Engel.
* 2 x mit der Schreibmaschine gestaltete Texte zur Kunstreflexion
* 1 x kleines Blatt mit Briefbeschreib und Bitte
"Engel, ist es wahr,
dass du keinen Körper hast
und doch da bist..
Engel, ist es wahr,
dass du keine Füsse hast
und doch mit mir Schritt hältst...
Engel, ist es wahr,
dass du keine Ohren hast
und doch alles hörst...
Engel, ist es wahr,
dass du keine Augen hast
und doch alles siehst...
Engel , ist es wahr,
dass du keine Hände hast
und mich doch schützend hältst...
Engel, ist es wahr,
dass du mich liebst
auch wenn ich oft
an deiner Gegenwart zweifle...
Engel, ist es wahr,
dass du mein verzagtes Herz
immerzu in GOTTES HAND legst..."
Mögest Du, Engel Eugen, Deine Hände schützend über diese verirrte Menschheit legen. Tausendundein Dank, dass ich Dich kennenlernen durfte.
Eugen Renggli: *10.5.1923 - †11.9.2016
Zitat aus der DRS-Radiosendung von Otto Betz über Engel:
"Die Botschaft des Engels ist auch eine Aufforderung,
der oder die zu werden,
als der oder die ich gedacht bin.
Denn wen wir ehrlich mit uns umgehen,
dann müssen wir zugeben,
dass wir weit hinter dem geahnten Umrissen
unseres Wesen zurückgeblieben sind.
Der Engel ist uns immer Voraus.
Er ist das, was wir noch nicht sind."
Mein Name ist nicht mehr Eugen, sondern Engel!

Eine Seite aus Rengglis Buch über Kunstreflexion.
Er veröffentlichte seine Gedanken mit 92 Jahren,
ein Jahr vor seinem Tod.
Adventsbotschaft aus dem Hebräerbrief:
!!!"Vergesst die Gastfreundschaft nicht, denn durch sie haben etliche, ohne es zu merken, Engel gastlich aufgenommen."!!!

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