Mittwoch, 14. Dezember 2022

(14/24) Adventskalender mit 24 Erinnerungen an Bern: LUIGI SPADINI - ÄLTESTER STAMMKUNDE DER VIDEOAPOTHEKE

L'homme qui amait les femmes. Jusqu'à la fin.


Luigi Spadini am 80. Geburtstag des Buchantiquars Alexander Wild
vor der Zsa Zsa Bar in der Berner Brunngasse

Luigi Spadini, Jurist, Clown, Philosoph, Mime, Frauenversteher, Tänzer, Menschenfreund, Sänger, Altstadt-, Bücher- und Filmliebhaber kam bis wenige Tage vor seinem Tod am 9. Februar 2015 fast täglich in meinen Laden. Der 91-jährige Lebemann inspirierte in den Gassen viele zu mehr Charme, Geselligkeit und Ausgelassenheit und er war Auslöser einer Massnahme, die Menschen unter den Lauben wieder näher zusammenrücken liessen.

Während den osteuropäischen Kreistänzen tanzte Luigi stets aus der Reihe. Im Hintergrund sieht man Ruedi Zemp im rotem Hemd. Im Vordergrund sieht man Simon Tauber, der neue Pächter der Berner Kulturoase Zehendermätteli an der Aare. https://www.zehendermaetteli-imglueck.ch/


Luigi, aufgewachsen in Loco im Onsernonetal TI, pilgerte bis kurz vor seinem Tod, fast jeden Tag von Köniz in die Altstadt, um dort, jenseits der oberen Altstadthektik, den Austausch mit Menschen aller Art zu finden. "Im Bus kann ich mit niemandem mehr reden, denn die Jungen machen immer nur so, so". Während er dies sagte, fuhr er dabei mit seinem rechten Zeigefinger mehrmals über seine linke Handfläche, als wäre auf dieser ein Smartphone und äusserte sich lautstark weiter: "Der Staat sollte intervenieren."

Ich bin zwar leider nicht der Staat, dafür Ladenbesitzer, dachte ich mir und so setzte ich Luigis Forderung 2014 in ein mehr oder weniger striktes Mobiltelefonverbot unter der Laube der Rathausgasse 38 um. Denn Luigis direkte Art, seine Hör- und Erinnerungsschwäche konnte viele lebensfremde digitale Eingeborene irritieren. Und was machen diese in solchen Fällen? Sie versperren sich der Begegnung mit dem unbekannten Fremden. Sie kompensieren ihre Verlegenheit, in dem sie in ihre Hosentaschen greifen, ihr Mobiltelefon-Computer hervornehmen und in ihr kleines, eigenes Schaufensterchen hineinschauen.


15 verschiedene Gesichter von Luigi innert 5 Minuten:
charmant, empört, kampfbewusst, verspielt, nachdenkend,
schockiert, strahlend, verschlossen, weinend, verzweifelnd.
In Luigis Mimik war alles drin!

Statt mit kaltem Computerlicht wurden sie an diesem Ort von Luigis warmherzigen Lachen angestrahlt und anfängliche Verständnisprobleme wurden nicht mit einer Applikation dafür mit Charme, Enthusiasmus und Witzen wettgemacht. Wenn man mit ihm nicht über die schönen Frauen redete, wurde man bald mit philosophischen Fragestellungen konfrontiert: Was ist Schönheit? Was ist Gott? Warum werden wir geboren?

Stimmungsbilder von Luigi Spadini

Luigi, der nach seiner Pensionierung viele Jahre Vorlesungen der philosophischen Fakultät besuchte, liebte die Gastronomie der Altstadt. Nicht selten wurde man vom pensionierten Jurist in seine Lieblings-Cafés "Bonbec" und "Belle Epoque" eingeladen oder man besuchte eine von der Familie Wild geführten Buchhandlungen, wo er einem sein Lieblingsbuch "Das bewusste Universum" von Amit Goswani bestellte.
Das feurige Temperament des Südschweizers war unter den Altstadtlauben unüberseh- bzw. unüberhörbar. Zum Beispiel wenn er zu einer Enrico Caruso Arie euphorisch mitsummte, wenn er von seiner Gründungsidee "Un Club des philosophes" erzählte, wenn er zu Chrige Lauterburgs Gassenständchen Walzer tanzte, wenn er Strassenkünstler hemmungslos zujubelte, wenn er Frauen Komplimente verteilte, wenn er von Marcello Mastroianni und Sophia Loren schwärmte, wenn er über Clown Grocks Kunststücke lachte oder wenn er einen Oberst in "HD-Läppli-Manier" salutierte.
Luigi trägt das Gedicht "Das Altersheim" aus
Erich Kästners lyrischen Hausapotheke vor.


Seine letzte Station vor der letzten war nicht das Pensionat für Greise, sondern der inspirierende Begegnungsort der Unteren Berner Altstadt.
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Das Altersheim, ein Gedicht von Erich Kästner

Das ist ein Pensionat für Greise.
Hier hat man Zeit.
Die Endstation der Lebensreise
ist nicht mehr weit.

Gestern trug man Kinderschuhe.
Heute sitzt man hier vorm Haus.
Morgen fährt man zur ewigen Ruhe
ins Jenseits hinaus.

Ach, so ein Leben ist rasch vergangen,
wie lang es auch sei.
Hat es nicht eben erst angefangen?
Schon ist´s vorbei.

Die sich hier zur Ruhe setzten,
wissen vor allem das eine:
Das ist die letzte Station vor der letzten.
Dazwischen liegt keine.

Er arbeitete bis zu seiner Pensionierung vor 26 Jahren als Jurist beim Bund, hätte aber viel lieber Arzt oder Psychiater werden wollen und träumte mit 90 vom Durchbruch als Arlecchino.
Nachdem letzten Sommer Clown Dimitris Akkordeonist seinen Kantonsgenossen stundenlang mit Tessiner Volkslieder auf seinem Instrument zu Begeisterungsexzessen besang, wurden Pläne für einen gemeinsamen Auftritt auf Alexander Wilds Kleinkunstbühne geschmiedet. Leider zu spät. Luigi schlief bei guter Gesundheit während einer Fernsehdokumentation über Alexander den Grossen zu Hause auf seinem Sessel ein.

Ein Tag nach Luigis Begräbnis in Köniz bei Bern lud ich Nachbarn und Kunden der Videoapotheke in mein Hinterzimmer ein, um zusammen mit Luigis Kindern vom Stammkunde der Videoapotheke Abschied zu nehmen.

Jeder nahm ein Gedicht oder eine Geschichte mit und trug dies in der Runde vor. Eine Mischung zwischen Texten von Luigi, Rose, Rilke, Heller, Hugo, Kästner, Dante, italienischen Reispflückerlieder und Anekdoten vom Lebenslauf der wohl ausdrucksstärksten und lustigsten Persönlichkeit der Rathausgasse war dabei. Ein unvergesslicher Abend!



Knapp ein Dutzend Besucher der Rathausgasse folgten zu seinem Begräbnis auf dem katholischen Friedhof in Köniz. Noch mehr trafen sich am darauf folgenden Tag in der Videoapothek zum Poesieabend, wo man zusammen mit seinen Kindern und einer Mischung zwischen Texten von Rilke, Heller, Hugo, Kästner, Dante, italienischen Reispflückerlieder, lustigen Anekdoten und seinem Lebenslauf von der wohl ausdrucksstärksten und lustigsten Persönlichkeit der Rathausgasse Abschied nahm.

Ciao ciao Luigi, wir denken viel an Dich und versuchen
Deinen Geist weiter in die Welt hinaus zu tragen

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