Ich weinte, und weinte, und weinte. Ich wusste nicht, dass sich in meinem Körper so viel Wasser befand, so fest habe ich geweint an diesem milden Februartag im 2013. Vom frühen Nachmittag bis Mitternacht habe ich durchgeweint. Noch nie habe ich wegen dem Verlust eines Menschen so viele Tränen vergossen. Was ist geschehen?
Aziz im Publikum der offenen Bühne Tsunderobsi
im Schlachthaus-Theater in der Rathausgasse, Bern.
im Schlachthaus-Theater in der Rathausgasse, Bern.
Mein treuster Wegbegleiter in Bern vom Frühling 2012 bis Winter 2012/13 wurde nach dreizehn Jahren Leben und Wirken in der Schweiz zurück nach Dakar in den Senegal abgeschoben. Gearbeitet hatte er hier immer, zum Beispiel im Gotthardtunnel, bei der mobilen SBB-Minibar oder in der Berner Postfinance-Arena als Koch.
Der Buchstabe C vom Wort S C H W E I Z E R stehe für ihn für „Chrampfe". Die sagt er fünf Tage vor seiner Ausschaffung in der Radiosendung FILMAPOTHKE über den Klassiker DIE SCHWEIZERMACHER. Während der Zeit in der Bundeshauptstadt gab er am Campus Muristalden auch Integrationsworkshops, war für ein Stück von Raphael Urweider Schauspieler im Schlachthaus und im Berner Stadttheater und für meine Sendung "Filmapotheke" auch Radiomacher bei Radio RaBe.
Link zur Radiosendung über DIE SCHWEIZER MACHER https://www.facebook.com/677872161/videos/1609859462799337/
Die Rede ist von Aziz Abdoul Touré, dem wohl integrativsten, sprich begegnungsfördelichsten Westafrikaner, der jemals in Bern gelebt hatte.
KENNENGELERNT
habe ich ihn während eines typischen morgendlichen Berner Altstadtspaziergangs an einem sonnigen und warmen Tag im März auf der Bundesterrasse. Ich war gerade dabei meine vierte Radiosendung zu Rainer Werner Fassbinders Film „Angst essen Seele auf“ für das Privatradio „Radio Bern“ vorzubereiten, da sah ich diesen gross gewachsenen, feingliedrigen dunkelhäutigen Mann mit Brille, Kugelschreiber und Notizblock auf einer Parkbank.
Ich steuerte auf ihn zu und fragte ihn, was er hier aufschreibt. Er teilte mir mit, dass er typische Berndeutsche Ausdrücke auf dem Blatt notierte und umschrieb diese in englischer Sprache. So zum Beispiel. „You want somebody to leave, but you are too shy to tell him.“ Auf Berndeutsch sagt man „Ausooo“. Da Aziz im Senegal und nicht im benachbarten Gambia aufgewachsen ist, zählt Wolof und Französisch zu seiner Muttersprache. Er bat mich deshalb sein Englisch zu korrigieren und stellte sich als "Dr. Bärndütsch XXL" vor.
Dieses Zusammentreffen markierte den Beginn einer leider nicht langen, dafür aber umso intensiveren und kulturell befruchtenden Männer-Freundschaft. Aziz war drei Monate zu wenig lang mit einer Frau mit Schweizer Pass verheiratet gewesen, was letztendlich dazu führte, dass trotz regelmässigen, unbefristeten Arbeitsverhältnissen sein Visum abgelaufen ist und er das Land deshalb verlassen musste.
KULTURELLE BEREICHERUNG
Ich fand die Idee mit den Berndeutschen Ausdrücken so genial, dass ich spontan Aziz als "Dr. Bärndütsch XXL" in die vierte Radiosendung über das deutsch-marokkanische Sozialdrama integrierte. Aziz wollte weitere Radiosendungen machen und so zeigte ich ihm im Hinterzimmer des Ladens zwei, drei Filme, von derer Heilkraft ich überzeugt war. Er entschied sich für den spanischen Film "Hable con ella" (Sprich mit ihr) von Pedro Almodovar. Leider kann aus urheberrechtlichen Gründen die Sendung nicht hochgeladen werden.
In dieser Ausgabe tritt Aziz jeweils vor und
nach den Musiktitel als Dr. Bärndütsch XXL auf.
nach den Musiktitel als Dr. Bärndütsch XXL auf.
Aziz wohnte dazumal am Bubenbergrain, am kleinen, steilen Strässlein, das die Altstadt mit dem Mattequartier verbindet. Er kam fast jeden Tag zu mir in und vor den Laden. Er half mir bei der Organisation von Konzertreihen, produzierte mit mir insgesamt sieben Radio-Sendungen auf RaBe, kochte unter den Lauben mehrfach senegalesisches Essen und bestellte mehrere afrikanische Musiker an die Rathausgasse. Er trat auf als Stand-up-Comedian auf der offenen Bühne Tsunderobsi, half mit bei der Erstellung diverser Flyer und organisierte "Soirées Africaine" in der links-alternativen Beiz Café Kairo mit Isaac Biaas als Griot-Sänger.
TGV. Die Radiosendung über den Film aus Senegal
setzt sich mit Aziz Kultur auseinander und therapiert
den fiktiven Leiter der Berner Verkehrsbetriebe.
LINK ZUR RADIOSENDUNG ÜBER TGV:
den fiktiven Leiter der Berner Verkehrsbetriebe.
LINK ZUR RADIOSENDUNG ÜBER TGV:
Was ich an ihm besonders zu schätzen lernte, war sein positiver "Can-Do-Spirit", die Fähigkeit fremde Leute mit seiner heiteren, integrativen Art anzusprechen und seinen Tatendrang die senegalesische Kultur mit den Bernern durch das Organisieren von Anlässen zu teilen. Er konnte aber auch stundenlang unter den Altstadtlauben und auf der Rathausgasse mit den alt eingesessenen - leider inzwischen alle verstorbenen - Altstadtoriginalen auf dem Laubenbänkli philosophieren.
LINK ZUR RADIOSENDUNG ÜBER MONSIEUR IBRAHIM
https://www.facebook.com/677872161/videos/698210001694253/
MAN STELLE SICH VOR
Aziz wäre in Bern geblieben und wir hätten Freunde bleiben können und hätten zusammen viele weitere kulturelle sowie auch poe(li)tische Veranstaltungen organisiert. Mit seiner disskussionsbereiten Art hätte er es nie zugelassen, dass sich Berner während der Corona-Zeit derart abgekapselt und das Mediennarrativ unkritisch runtergeschluckt hätten.
Im Sommer 2020 hatte er in der Hauptstadt Senegals im muslimischen Quartier Canberenne sogar zu offenen Bühnen eingeladen, um über das uns global allgegenwärtige dominierende Thema offen zu diskutieren. Ca. 50 Senegalesinnen und Senegalesen sind gekommen und schätzungsweise ein Dutzend hatte während der offenen Bühne ihre Mund-Nasenbedeckung abgezogen. In der Schweiz wäre ein derartiges "Masken-fallen" nie möglich gewesen, da Schweizer ihre Eitelkeit nicht gerne verletzt sehen können, schon gar nicht in der Öffentlichkeit. Deswegen halten heute noch die meisten am staatlich vermittelten C-Narrativ krampfhaft fest.
Ein Jahr nach seiner Abschiebung in den Senegal versuchte ich Aziz zurück in die Schweiz zu holen. Ich bot ihm sogar ein Arbeitsvertrag an. Doch der Lohn wurde von der Behörde SECO als zu tief eingestuft, weswegen sie ihm keine Erlaubnis für einen dreimonatigen Aufenthalt in der Schweiz gewährt wurde.
AZIZ, ICH VERMISSE DICH UND BERN BRAUCHT DICH MEHR DENN JE.
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