Samstag, 3. Dezember 2022

(3/24) Adventskalender mit 24 Erinnerungen an Bern: RUEDI ZEMP

Die 3. Erinnerung gilt einem der letzten Berner Altstadtoriginale, nämlich meinem lieben Nachbar und Modellautohändler Ruedi Zemp. Die Trauerfeier fand am 27. Oktober 2017 im Münster statt. An dieser Stelle teile ich die sehr berührende und erkenntnisreiche Predigt, die der Münsterpfarrer Beat Allemand auf Basis meiner Zeitungsartikel und Erzählungen geschrieben hatte.


Tschäppät sagt von ihm: „Er ist für die Altstadt ebenso
unentbehrlich wie die Zytglogge und das Münster!“ Für seine Freunde ist er eine Festhütte, für über Achtzigjährige ist er Heimatschutz-Gastronom, für Touristen ist er Museumskurator, für den „Verein Bern in Blumen“ Geranienkönig, für Nostalgiker Altstadt-Lexikon. Für Philologen ist er Berndeutsch-Professor, für Junggesellen Hauswirtschaftslehrer, für Nachbarn Gassenchronist und für seine Kundschaft ist er Seelenwärmer.

Die Rede ist von Rudolph "Ruedi" Zemp, Betreiber und Besitzer des Modellautoladens ZEMP in zweiter Generation an der Rathausgasse 45. Von sich behauptet Ruedi, dass er bereits ein biblisches Alter erreicht hätte, denn alte Esel wie er einer sei, erreichen laut einem zoologischen Bericht höchstens 35 Jahre. Gehen wir dem Altstadturgestein auf die Spur, indem wir die Geschichte und das Wirken von Ruedi ein bisschen aufrollen.
„Als 5-jähriger Bub lief ich im Sommer 1959 von zuhause weg, weil es im Garten mit meinen Tanten, Cousinen und jüngeren Schwestern so langweilig war. Ich lief 3 Kilometer alleine in die damalige Metzgergasse, zum Geschäft meines Vaters. Der Angestellte Hans Wirth erteilte mir seinen ersten Auftrag: "Komm Bubi, wisch die Lauben." Kurzentschlossen verkürzte der Freund meines Vaters für mich den Besen und so fand ich meine erste bezahlte Anstellung als Laubenwischer.
Mein Arbeitslohn war ein Schoggistängeli von Frau Brönnimann“, erzählt Ruedi Zemp nostalgisch. "So war ich endlich unter Männern im Zentrum der Stadt und hatte ein sinnvolle Aufgabe rund um die Ladenwerkstatt meines Vaters. Für mich als kleiner Bub war das ein aufregender Ort voller interessanten, spannenden Menschen." Hier trieben die Damen für ihn noch ein mysteriöses Geschäft, die "Hells Angels" fuhren mit ihren lauten Maschinen durch die Gasse und Madame de Meuron schritt mit ihren wallenden Gewändern und ihrem Hörrohr dienstags durch die Stadt, wenn sie jeweils die Miete abholte.
Italienische und spanische „Fremdarbeiterkinder“ lärmten auf der Gasse in einer ihm unbekannten Sprache sowie drei Metzgereien, drei Lebensmittelgeschäfte und vier Bäckereien warben um die Gunst der Kunden.
Ruedis Vater, Rudolph Zemp, Bauernsohn und gelernter Käser und Autodidakt aus Luzern, kaufte mit dem Geld aus einer Erbschaft am 1. August 1952 das schmale 5-stöckige Sandsteinhaus an der Metzgergasse 45 und gründete damals einen Laden mit Werkstatt für Motoren, Holz- und Metallbearbeitungsmaschinen, Staubsaugern, Fotoapparaten, antiken Telefonen, Radios, Laterna Magicas und Ölöfen.
Die folgenden Jahre waren für die Zemps eine geschäftlich gute Zeit. „Immer mehr Kunden von Stadt, Land und Ausland kauften oder reparierten bei uns“. Dieser Umstand erlaubte Ruedis Vater weitere Geschäfte in den benachbarten Häusern zu mieten.
Ruedi half in der Werkstatt mit, Maschinen zu revidieren und Motoren aufzufrischen. Mutter Rösi, eine gelernte Buchhalterin schaute ihrem Mann auf die Finger, so dass auch das "Kässeli" am Ende des Tages stimmte.
Der Vater war ein engagiertes Mitglied des Leistvorstands, finanzierte die erste Weihnachtsbeleuchtung der damaligen Metzgergasse und erwarb sich einen Ruf als geschickter Reparateur von technischen Antiquitäten.
Als der Umbau anstand, entwickelte Ruedi, der eine Kürschnerlehre absolvierte hatte, sämtliche Pläne für die Umgestaltung des Ladens und für die Renovation des Hauses. Die Arbeit als Innenarchitekt sowie der Umgang mit Menschen hat Ruedi so viel Freude bereitet, dass er sich 1982 entschloss, ein Restaurant in Köniz zu pachten und dies gleich selber umzubauen. Das Café-Restaurant „Tandem“ war bekannt für die besten „Paschtetlis“, Meringues, Kartoffelgratins, Hackbraten und anderen Köstlichkeiten, die er schon als kleines Kind bei der Grossmutter mitzubereiten durfte, von der er sagt: „Sie war nie emanzipiert. Sie hat einfach befohlen.“ Sie kochte nie nach Rezept, sondern nach "Gschpüri", wie Ruedi auch.
Währenddessen zeichnete sich an der von der Metzger- in Rathausgasse unbenannte Strasse ein Wandel ab. Die Damen vom horizontalen Gewerbe wurden vertrieben, die Gastarbeiter bezogen die Wohnblöcke in den Aussenquartieren, die Kinder verschwanden, wie auch die Lebensmittelgeschäfte.
Die internationalen Modeketten belagerten die Obere Altstadt und wie Ruedi sagt, „verwandelten sich die Schweizer in Migroslawen“. Mit dieser Bewegung schmolz auch die Kundschaft von Zemp dahin.
Im ehemaligen Warenlager der Zemps mietete sich der Weltladen ein, der heute an der Rathausgasse 52 ansässig ist. Grosse Veränderungen gab es auch in der Sortimentsstruktur: Die Ölöfen liess man mit der Zeit ausgehen, weil immer mehr grosse Heizanlagen gebaut wurden. Das Geschäft mit den Haushaltsgeräten, Drehbänken, Motoren und Werkzeugen wurde von den Grossverteilern verdrängt. So wurden in den 80er Jahren Modelleisenbahnen und technische Antiquitäten zur Haupteinnahmequelle des Familienunternehmens, das seit dem Tod von Ruedis Vaters 1988 von seiner Mutter „Rösi“ und seiner Schwester Rosemarie Zemp weitergeführt wurde.
1995 gab man die beiden Läden an der benachbarten Rathausgasse 41 auf. Ruedi übernahm ein Jahr später das Hauptgeschäft an der Rathausgasse 45 und den Antiquitäten-Ausstellungsraum an der Rathausgasse 49. Die Nachfrage nach Modelleisenbahnen brach in den 90ern ein, so setzte Ruedi Zemp seit Ende der 90er Jahre immer mehr auf Modellautos aus China. Diese Autos wecken viele Erinnerungen. „Gerade kürzlich kaufte eine Kundin begeistert einen Fiat 500, weil sie damit das Autofahren erlernte.“ „Aber den Jungen sagt dieses Zeugs heute nichts mehr. Die Jugend von heute gehört zur IKEA-Generation und diese spielt Computerspiele vor ihren Bildschirmen.
Die Liebhaber von Modellautos sterben mir weg oder sind schon so alte Ruinen, dass sie von selber wegbröseln“, sagt Ruedi Zemp. Gesundheitlich gehe es ihm heute "miserabel gut".
Ruedi meint: „Me muess eifach jede Morge guet ufestuele (sich zurecht machen). Die "Metzgerei Sonnenhof" hat mir mit einer falsch gesetzten "Lumbal-Narkose" eines meiner wichtigsten "Zahnrädli" (Nerv), welches das Gangwerk zum Laufen bringt, zerschnetzelt.“ Gerade wegen diesem Schicksalsschlag sagt eine ältere Frau über ihn: „Ruedi ist die fröhlichste Leiche der Gasse.“
Und Ruedi fügt an: „Den Heiligenschein habe ich schon längstens entsorgt, weil ich mir das Poliermittel Segulin nicht mehr leisten kann und ich traue mich auch nicht mehr in die Aare, weil ich nicht möchte, dass ich untergehe und so die Fische bis zum Wohlensee an einer Weissweinvergiftung sterben.“
Es sind sein Galgenhumor, seine Gastfreundschaft und seine Grossmutter-Weisheiten, die Ruedi zu einer der schlagfertigsten, herzlichsten und faszinierendsten Altstadtpersönlichkeiten machen. Sein Laden, der mit "Hudigääggeler-Musik" beschallt wird, finden die Japaner „very nice“. Für andere ist die Rathausgasse 45 wie ein Pilgerort, an dem man die täglichen Sorgen vergisst und durch Ruedi wieder neuen Lebensmut fasst.
Wer einmal an einem Ostersamstag, Zibelemärit oder Fasnacht bei Ruedi im Hinterzimmer zu Gast war, wird die durch das Essen und Ruedis Anekdoten erzeugte heitere Stimmung nicht mehr vergessen. Wie bunte Seifenblasen tauchen die Geschichten aus seinem Gedächtnis auf und tanzen munter in der Vorstellungskraft des Zuhörers, bis sie platzen und von anderen ersetzt werden. Seine Erzählungen sind packend, lebendig und anschaulich. Seine Stimme klingt wie eine helle Glocke und man hat nur den einen Wunsch, dass diese nie verstummt.
Musik
Lesung aus Hebräer, Kapitel 13
Die Liebe zu denen, die euch vertraut sind, bleibe! Vergesst die Gastfreundschaft nicht, denn durch sie haben einige, ohne es zu ahnen, Engel beherbergt. Denkt an die Gefangenen, weil auch ihr Gefangene seid; denkt an die Misshandelten, weil auch ihr Verletzliche seid. Führt ein Leben frei von Geldgier, begnügt euch mit dem, was da ist. Denn Gott selbst hat gesagt: Ich werde dich niemals preisgeben und dich niemals verlassen. So können wir getrost sagen: Der Herr ist mein Helfer, ich werde mich nicht fürchten; was kann ein Mensch mir antun?
Vergesst nicht, einander Gutes zu tun und an der Gemeinschaft festzuhalten.
Musik
Gedanken
Liebe Trauernde,
Unter seinen Lauben und in seinem Laden-Hinterzimmer kreierte der einstige Wirt etwas, was nur wenige zu Stande bringen. Statt nur unter seinesgleichen zu sein, trafen sich an der Rathausgasse 45 Mitmenschen aus allen Generationen, Gesinnungen, Szenen, Einkommensklassen und Kulturen.
Dies geschah in einer Zeit, in der Begegnung zunehmend in der digitalen Welt stattfindet und die Menschen das Entdecken Suchmaschinen im Internet delegiert haben. Ruedis Laden war für jeden humordurstigen Menschen, der die Begegnung suchte, eine Oase.
Ungezwungen, ohne Voranmeldung, durfte man sich zu ihm setzen, bekam einen Café, ein Glas Wein, je nach Saison sogar noch selbst gebackene Fasnachts-Tirggle, einen Rhabarber- oder Zibele-Kuchen serviert.
Ein weiterer Gast stoss hinzu, ein anderer ging weiter. Ein kommen und gehen. Sein Laubenterrassengärtli und Laden waren für einige die Altstadt-Akademie und Ruedi deren Vorsteher mit den Forschungsschwerpunkten Bärndütsch und Gassenchronik. Hier wurde nicht das Wikipedia verbreitet, sondern Grossmutter-Weisheiten.
Statt "Büechligschiidi" kamen "Läbäsgschiidi" zum Wort. Ruedi schenkte seinen Gästen viel Raum: Nämlich ihren Geschichten, Freundschaften und Erfahrungen.
Stefan Teiler, ein Freund von Ruedi, schreibt mir in einer Mail: "Seine Zeichnungen waren seine Vorlesungsnotizen. Eine Zeichnung von der einstigen Leihbibliothek Büschi inspirierte mich vor 9 Jahren zur Gründung meiner Videoapotheke und ermutigte mich, eine ebenso offene begegnunsfreundliche Laube zu gestalten wie Ruedi. Sein heilsamer Altstadtgeist wird nie erlöschen, wenn wir Ruedis Gastfreundschaft nacheifern und sein feu sacrée einander weiterreichen und so in die grosse weite Welt hinaustragen."
Und so denken wir heute an Ruedi Zemp, der einmal zu uns gehörte. Wir denken an die Spuren, die er hinterlassen hat. Ein Leben aus verschiedenfarbigen Fäden gewoben.
Ich nehme an, dass einige von Ihnen, die nun hier sind, etwas anfangen können mit dem Bibelwort, das uns an die Gastfreundschaft und Grosszügigkeit von Ruedi erinnert.
„Vergesst die Gastfreundschaft nicht, denn durch sie haben einige, ohne es zu ahnen, Engel beherbergt.“ Ruedi lebte uns Gastfreundschaft vor. Manchmal waren seine Gäste nicht die einfachsten Menschen. Vielleicht wurde Ruedi von einigen auch ausgenutzt. Ich weiss es nicht. Sehe ich richtig, dann ist Ruedis Umgebung ein Ort der Gastfreundschaft mitten in der Altstadt. Ungewöhnliche Begegnungen werden hier möglich. Kontakte, Gespräche, Anteilnahme. „Vergesst die Gastfreundschaft nicht. Denn durch sie haben einige, ohne es zu ahnen, Engel beherbergt.“ Engel, die Boten von Gottes Nähe, können unscheinbar sein. Sie sind verwechselbar. Leicht können sie uns einfach wie normale Menschen erscheinen. Man sieht ihnen die Heiligkeit nicht unbedingt an. Wer sie nicht versäumen will, braucht einen offenen Blick und ein offenes Haus. Die Bereitschaft, Unbekannte aufzunehmen.
Vielleicht war Ruedi für einige ein Engel. Ich will ihn keinesfalls zum Heiligen stilisieren, denn ich weiss, dass er wie wir alle seine Schatten hatte. Der Engel weist mich auf den Nächsten hin, auf Menschen, die mir nahe sind oder denen ich näher kommen möchte. Engel schlagen Brücken.
„Lenk deinen Schritt engelwärts“ rät uns ein Gedicht von Rose Ausländer. Das meint: Öffne dich für Gott und für deinen Nächsten. Insgesamt heisst dieses Gedicht so:
Der Engel in dir
freut sich über dein
Licht
weint über deine Finsternis
Aus seinen Flügeln rauschen
Liebesworte
Gedichte Liebkosungen
Er bewacht
deinen Weg
Lenk deinen Schritt
engelwärts
Wie aus Erzählungen und Fotos zu entnehmen ist, hat Ruedi in einem grossen Freundeskreis fröhliche, gelungene Feste gefeiert. Laut Fotos fanden sie in seinem Restaurant Tandem in Köniz und später im kleineren Rahmen in der Küchenstube hinter dem Laden, in seiner Wohnung an der Rathausgasse oder auch auf der Gartenterrasse statt. Sie müssen witzig und geradezu sprichwörtlich gewesen sein.
Doch das ist nur die Hälfte der Wahrheit. Fotos macht man üblicherweise an Festen und weniger im Alltag.
Ich stelle mir vor, dass Ruedi ein Mensch zwischen Welten war. Nicht nur das "leichte Dasein" hat ihm nahegelegen, er hat immer alle Höhen und Tiefen seines Lebens ausschreiten müssen. Er empfand sein Leben als streng. "I mim Läbe han i viel Schöns erläbt - aber o viel Strängs müesse dürestah."
Manchmal war er einsam. Ruedi pflegte seine bettlägerige Mutter über 2 Jahre.
Er begleitete sie im Sterben und legte sie selber in den Sarg. Für ihn war sie ein grosses Vorbild. "Meine Mutter hat immer alles in Ordnung gehabt" hat er gesagt. Ein Gedicht von Käthy Wüthrich "e Mueter" muss ihm viel bedeutet haben. Er hat sich das Gedicht für seine Trauerfeier gewünscht. Vielleicht wurde es bereits bei der Abdankungsfeier seiner Mutter gelesen. Es geht so:
Es sött eifach e jede ne Muetter ha,
e Muetter, wo da isch.
Wo da isch
u lost -
wo chunnt, wen de rüefsch,
wo rennt, we de chunnsch -
eini, wo di gärn het
e so, wie de bisch.
Es sött eifach e jede ne Muetter ha,
e Muetter, wo überall,
wo's nötig isch
da isch -
wo versteit, was de redsch -
eini mit starche n'Arme,
wo drinn chasch erwarme.
Es sött eifach e jede ne Muetter ha,
e Muetter, wo da isch.
Wo da isch -
eifach geng da isch -
wo lost, we se bruuchsch,
wo di laht, we de geisch -
eini, wo isch, wie ne Brunne -
eini, wo wermt, wie ne Sunne.
Es sött eifach e jede ne Muetter ha,
o ig als Muetter
hätt gärn e Muetter -
u du Muetter?
Ruedi Zemp hat im letzten Jahr Schweres erlebt. Der Krebs forderte ihn heraus. Tagsüber hat er den Vogelstimmen gelauscht, Landschaften durchmessen, da und dort ein Wort gewechselt, sein eigenes Leben durch sich hindurchbewegt in Gedanken. Es waren auch immer Gedanken an den Tod dabei, die ihn nicht schreckten.
Und die Gespräche mit Mitmenschen über Vergänglichkeit waren letztlich immer Gespräche, die das Leben, hier wie dort, umkreisten. Geängstigt hat ihn manchmal der allgemeine Lauf der heutigen Welt, den er mit Besorgnis verfolgte.
Ruedi musste lernen loszulassen.
Einmal kommt die Zeit, wo wir Stück für Stück aus der Hand geben müssen. Dazwischen liegt ein langer Weg, Begegnungen, Freude, manchmal auch ein schmerzvoller Weg. Und vielleicht vermag man am Ende versöhnt zu erkennen, dass das Leben mit allem, was einem entgegenkommt ein Geschenk ist. Ich danke Ihnen, liebe Anwesende, die Sie hierher gekommen sind, um Ruedi zu gedenken, oder ihn ein Stück seines Weges begleitet haben.
Amen.
https://vimeo.com/235806874 (4min Filmchen mit Ruedis Stimme)

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